Politischer Rückblick

Wer die asylpolitischen Debatten der 1990er Jahren aktiv verfolgt hat, erlebt in diesen Tagen ein Déjà-vu: Wieder einmal steht die Flüchtlingsbewegung mit dem Rücken an der Wand. Die gesellschaftlichen Debatten verschieben sich immer weiter nach rechts, rechtspopulistische und rechtsradikale Positionen finden öffentlich vermehrt Gehör und werden als legitime politische Haltungen akzeptiert, die Stimmungslage ist in Teilen der Gesellschaft zunehmend aggressiv.

In der Europäischen Union erleben Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit einen Aufschwung, während Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte unter Druck geraten. In dieser
Gemengelage verschärft sich zusehends auch die deutsche Flüchtlingspolitik: Immer kleinmütiger reagiert sie auf die Angriffe der rechten Rattenfänger, die mit organisierten Hasskampagnen, Shitstorms und Fake News die Gesellschaft spalten und Flüchtlinge zu einer Gefahr für die deutsche Gesellschaft stilisieren.

Ignoriert wird in den Debatten nicht nur, dass es Migrationsbewegungen zu allen Zeiten gegeben hat, und dass diese oftmals gesellschaftliche Entwicklungen bereichert und mitgestaltet haben.
Zugleich wird ausgeblendet, dass die Aufnahme und der Schutz von Flüchtlingen im Grundgesetz sowie in verbindlichen internationalen Abkommen verankert sind und insofern im politischen
Alltagsgeschäft nicht leichtfertig abgewertet werden dürfen. Mehr denn je brauchen wir jetzt eine Bewegung von unten, die die 2015 zu Recht gelobte „Willkommenspolitik“ offensiv verteidigt,
den Rechten die Stirn bietet und unsere demokratischen Werte hochhält.

Aufgeschreckt von Wahlerfolgen der rechtsradikalen AfD wird der Schutzanspruch von Flüchtlingen inzwischen offen infrage gestellt. Reizwörter wie „Gettobildung“, „Integrationsverweigerer“ oder „Parallelgesellschaften“ dienen dazu, repressive Maßnahmen durchzusetzen und menschenrechtliche Standards zu unterlaufen. Dabei sind solche Begriffe rein politisch motiviert und inhaltlich fehlgeleitet, weil sie die Verantwortung für die Integration allein Geflüchteten zuweisen und diese bereits durch die Wahl ihres Wohnortes abwerten. Tatsächlich fehlt solchen Zuschreibungen jede empirische Grundlage. Geflüchtete leben keineswegs in – so die Phantasie – abgeschlossenen sozialen Räumen, um sich einer aktiven Teilhabe an der Stadtgesellschaft zu verweigern. „Parallelgesellschaften“ oder „Gettos“ existieren vielmehr in den Köpfen derer, die die Begriffe verwenden. „Integrationsverweigerer“ sind in erster Linie jene, die Flüchtlingen ihre Rechte absprechen, ihnen Sprachkurse, Arbeit, Bildung verweigern und sie in fragwürdigen Lagern isolieren, statt ihnen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Die derzeit dominierende Perspektive in der Debatte um Flucht und Flüchtlinge zeigt sich auch am Begriff „Flüchtlingskrise“, mit dem die Verantwortung für die Entwicklung dieser vermeintlichen „Krise“ den Schutzsuchenden selbst zugeschoben wird. Kriege, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und andere Fluchtursachen werden dagegen ausgeblendet. Tatsächlich haben wir es gegenwärtig nicht mit einer „Flüchtlingskrise“, sondern mit einer Humanitätskrise zu tun: zum einen in den Herkunftsländern wie Syrien, Afghanistan oder Irak mit ihren seit Jahren andauernden Kriegen und schwersten Menschenrechtsverletzungen; zum anderen aber auch in den europäischen Aufnahmeländern. In Deutschland wird – wie mittlerweile in der gesamten EU – die sinkende Zahl von Asylsuchenden allenthalben als Erfolg gewertet, als bedeute die Abschottungspolitik, dass es weniger Flüchtlinge gäbe. Dabei sind Schutzsuchende, wenn sie nicht auf einer der lebensbedrohlichen Fluchtrouten umgekommen sind, lediglich andernorts gestrandet: in libyschen Camps, in denen Folter, Versklavung, Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind; in miserabel ausgestatteten Hotspots auf den griechischen Inseln oder ohne staatliche Versorgung in provisorischen Lagern entlang der Balkanroute; im syrischen Kriegsgebiet, weil zum EU-Türkei-Deal zumindest informell auch gehört, dass die Türkei ihre Grenze zu Syrien abgeriegelt hat.

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