Laut einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Studie zu Gewaltentwicklung in Deutschland sind fehlende Bleibeperspektiven für junge Geflüchtete mitunter Ursache zunehmender Straftaten. Umso wichtiger ist es aus Sicht des Flüchtlingsrats Niedersachsen, die Aufenthalts- und Integrationsperspektiven insbesondere dieser Zielgruppe zu stärken. Gerade die Kinder- und Jugendhilfe kann einen entscheidenden Beitrag in der Gewaltprävention leisten – sofern auch für junge Volljährige der flächendeckende und uneingeschränkte Zugang zu bedarfsorientierten Hilfeleistungen ermöglicht wird.
Die Studie zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland – Schwerpunkt Jugendliche und Flüchtlinge liefert wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der konkreten Auswirkungen der aktuellen restriktiven und ungerechten Flüchtlings- und Aufnahmepolitik in Deutschland. Sie zeigt auf, dass geringere Aufenthalts- und Integrationsperspektiven eher zu delinquentem Verhalten bei Geflüchteten führen können.
Nichtsdestotrotz sind die hier angegebenen Zahlen mit Vorsicht zu betrachten. In den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), auf der die Studie basiert, werden nicht nur rechtskräftige Verurteilungen, sondern die Anzahl von Straftaten, bei denen Geflüchtete als Täter_in verdächtigt wurden, aufgenommen. Gleichzeitig weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass die Anzeigebereitschaft von Opfern gegenüber ihnen unbekannten oder „fremd“ erscheinenden Täter:innen höher ist, als bei ihnen bekannten Personen. Umgekehrt werden deutsche Täter:innen durch Migrant:innen seltener zur Anzeige gebracht.
Viele der Aspekte, welche die Studie als Ursachen für ein solches Verhalten beschreibt – die massenhafte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, der fehlende Zugang zu Sprach- und Integrationsmaßnahmen, Diskriminierungserfahrungen – werden auch vom Flüchtlingsrat seit längerem als Missstände in der Flüchtlings- und Aufnahmepolitik kritisiert. Es verwundert nicht, dass die vielfach prekären Lebensumstände und die alltägliche Konfrontation mit staatlich forcierter Perspektivlosigkeit Frustration und aggressives Verhalten begünstigen können, die sich mangels Alternativen in delinquentem Verhalten äußern.
Insbesondere bei jungen Menschen wirkt sich eine unsichere Aufenthalts- und Zukunftsperspektive destabilisierend aus. Unter den Erklärungsangeboten benennen die Autoren bereits grundlegende Aspekte, die das Gewaltrisiko junger Geflüchteter begünstigen können. Im Gegensatz hierzu wird der positive und präventive Effekt einer organisierten Tagesstruktur, Schulbildung und sozialer Vernetzung hervorgehoben. Im Rahmen der Jugendhilfe wird eine solche umfassende Betreuung – unabhängig des Herkunftslandes und der jeweiligen Aufenthaltsperspektiven – für unbegleitete minderjährige Geflüchtete gewährleistet. Doch diese Betreuung fällt bei einer Mehrzahl der Kommunen ab dem 18. Geburtstag weg, so dass sich viele junge Volljährige plötzlich in der oben beschriebenen Situation befinden – obwohl bei individuellem Bedarf ein rechtlicher Anspruch bis zum 21. Lebensjahr bestünde.
Angesichts der aktuellen Debatte um Alterseinschätzungen muss hier aus Sicht des Flüchtlingsrates ein weitaus größerer Wert auf den präventiven Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe gelegt werden. Die hieran anknüpfenden Hilfen für junge Volljährige, die im § 41 des SGB VIII geregelt sind, werden in der Studie zwar erwähnt, kommen in ihrer Bedeutung aber zu kurz.
Der § 41 gewährleistet Hilfen „zur Persönlichkeitsentwicklung und eigenverantwortlichen Lebensführung“ und kann somit einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Stabilisierung und positiven Motivierung der jungen Menschen leisten. Aus diesem Grund sollten auch psychische und emotionale Reife als Maßstab für den Anspruch auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gelten, anstelle der ausschließlich geforderten Untersuchung körperlicher Entwicklungsmerkmale. Zur Forderung einer flächendeckenden medizinischen Alterseinschätzung hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen bereits klar Stellung bezogen, siehe hier.
Der Flüchtlingsrat begrüßt den Aufruf der Autoren an die Politik, Sprach- und Integrationsangebote für alle Gruppen von Geflüchteten zu öffnen – unabhängig von ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Bleibeperspektive. Hintergrund – oder vielmehr Ziel – eines solchen Ansatzes sollte jedoch nicht (wie vorgeschlagen) die implizierte Hoffnung auf eine „freiwillige“ Rückkehr der Betroffenen in ihre Herkunftsländer sein, sondern die Chance auf eine gleichberechtigte Gestaltung einer langfristigen Zukunftsperspektive in Deutschland.
Presseberichte
ARD, tagesschau vom 03.01.2018: Flüchtlingspolitik: Studie zur Gewaltkriminalität in Niedersachsen
Evangelische Pressedienst vom 04.01.2018: Flüchtlingsrat fordert stärkere Betreuung von jungen Flüchtlingen
NDR vom 04.01.2018: Gewalt von Flüchtlingen trifft meist Flüchtlinge
NDR vom 04.01.2018: Gemischte Reaktionen auf Kriminalitäts-Studie
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