Rund 250 Interessierte informierten sich kürzlich im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Flüchtlingsrats Niedersachsen in Zusammenarbeit mit lokalen Koooperationspartner:innen in Göttingen, Hannover, Celle und Lüneburg über die Lage der Menschenrechte und die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan. Dafür konnte die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle (Saale), die unter anderem als Gutachterin für britische und deutsche Gerichte in Asylverfahren tätig ist, gewonnen werden, die eindrücklich die Lage im Land beschrieb.
Stahlmann wies darauf hin, dass die Vereinten Nationen vor kurzem in einer Neubewertung der Lage in Afghanistan zu dem Schluss gekommen seien, dass im ganzen Land Krieg herrsche. Nach Stahlmanns Worten kontrolliert die afghanische Regierung derzeit nur 18 % des Territoriums. Die ständigen Machtwechsel auf lokaler und regionaler Ebene führten zu einer landesweiten großen Unsicherheit. Anschläge auf Schulen, Märkte und Krankenhäuser veränderten das alltägliche Leben. Die Ängste wüchsen. Das Misstrauen sei teilweise so groß, dass niemand mehr bei einem Autounfall helfen möge, weil nicht sicher sei, dass es sich nicht tatsächlich nur um eine Vortäuschung eines Unfalls handele, sondern vielmehr um einen Angriff.
Die Referentin machte deutlich, was es heißen würde, jetzt von Deutschland nach Afghanistan zurückkehren zu müssen. Ein sicheres Leben sei nicht möglich. Es entstünden schon jetzt Rückkehrer-Schutzräume -vergleichbar mit Schutzhäusern bei uns-, die nach der Rückkehr die einzig sicheren Orte wären. Dort verharrten Rückkehrende, bis ihnen die erneute Flucht möglich werde. Stahlmann machte deutlich, dass es in Afghanistan unmöglich sei, anonym zu leben. Selbst bei privaten Problemen sei ein Untertauchen quasi unmöglich. Vor dem Hintergrund der aktuell breit in der Öffentlichkeit diskutierten Rückführungen aus Deutschland nach Afghanistan machte Stahlmann deutlich, dass die Abgeschobenen derzeit als schwere Straftäter bis hin zu Vergewaltigern stigmatisiert würden und schon von daher eine Reintegration vor Ort faktisch nicht möglich sei. Die aufgehetzte Presseberichterstattung in Deutschland habe sich auch in afghanischen Medien wiedergefunden. Zudem würden Rückkehrer von den Taliban sofort als Gegner betrachtet werden, da schon allein ihre Flucht in den Augen der Taliban ihre Gegnerschaft zum Ausdruck bringe. Stahlmann machte deutlich, dass die Rückkehrer dadurch gleichzeitig auch ihre eigenen Familien gefährdeten, wenn sie sich bei ihnen länger aufhielten. Die Rückkehrer müssten deshalb i.d.R. ihre Familien wieder verlassen und wären somit auf sich allein gestellt und könnten sich nicht auf ein familiäres Netz stützen.
Eine große Gefahr bestehe bei Rückkehrern vor der organisierten Kriminalität. Entführungen seien an der Tagesordnung. Gerade bei Rückkehrern aus dem Westen habe man die Vorstellung, dass diese zu Geld gekommen seien oder jedenfalls Freund:innen im Westen hätten, die wohlhabend seien. Somit sei das Entführungsrisiko deutlich erhöht. Auch seien die Rückkehrer bei den letzten Abschiebeflügen nach dem Ankommen gefilmt und fotografiert worden, sodass sie leicht identifizierbar seien. Die Afghan Local Police sei keine Polizei im deutschen Sinne und könne keine Sicherheit bieten. Ganz Afghanistan befinde sich in Strukturen von gegenseitiven persönlichen Abhängigkeiten. Vor diesem Hintergrund sei auch der Zugang zu Wohnraum extrem erschwert bis unmöglich.
Vor dem Hintergrund der hunderttausenden aus den Nachbarländern Pakistan und Iran zurückgeschickten Afghan:innen sei auch die Versorgungslage im Land noch schwieriger als zuvor. Nach Abzug der ISAF-Truppen sei die Wirtschaft zusammengebrochen. Wer überhaupt keine Chance habe, seien Rückkehrer aus Deutschland, die zuvor nur in Iran gelebt hätten und Afghanistan nicht kennen würden. Sie würden schon wegen ihrer anderen Sprache vor Ort auffallen, da sich farsi und dari deutlich unterscheiden und auch die regionalen Dialekte sofort wiedererkannt werden. Insgesamt seien auch die von der Bundesregierung einer Rückkehr zugrundegelegten Überlebensmöglichkeiten in den großen Städten kaum vorhanden. Generell gebe es eine extreme Land-Stadt-Bewegung, die durch die Rückkehrenden aus den Nachbarländern noch verstärkt worden sei. Sogenannte inländische Fluchtalternativen, die nach Lesart des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie einigen deutschen Verwaltungsgerichten zugänglich sind, seien laut Stahlmann nicht vorhanden. In ihrer Verzweiflung und Aussichtslosigkeit würden etliche Rückkehrer Afghanistan Richtung Iran verlassen, wo ihnen oftmals keine andere Wahl bliebe, als in der iranischen Armee Dienst zu tun. Als afghanische Söldner würden sie dann i.d.R. im Bürgerkrieg in Syrien kämpfen.
Hintergründe zur Expertise von Friederike Stahlmann können etwa in zwei aktuellen Beiträge im Asylmagazin 3/2017 zur humanitären Lage von Rückkehrenden nach Afghanistan und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung sowie zu Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans nachgelesen werden.
Abgeschlossen wurde die Veranstaltungsreihe zu Afghanistan mit einer Filmveranstaltung im Kino im Sprengel in Hannover, wo der Film „True Warriors“ (zum Trailer) von Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck gezeigt wurde. Der beeindruckende und bewegende Film beschreibt, wie eine Theatergruppe in Kabul einen Anschlag während der Premiere ihres Stückes im Institut Francaise Afghanistan verarbeitet und sich dem Terror der Taliban widersetzt. Die beiden Filmemacher:innen sowie die Flüchtlingsberaterin Shakila Nawazy, die Anfang September Kabul besuchte, standen im Anschluss an den Film zu Gesprächen mit dem Publikum zur Verfügung.
Die gelungene Veranstaltungsreihe in vier niedersächsischen Städten konnte an vorherige Veranstaltungen des Flüchtlingsrats Niedersachsen zur Menschenrechtslage in Afghanistan anknüpfen. So hatte Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysts Networks, im Dezember 2016 auf einer Veranstaltung im Rahmen der Verleihung des Fluchthilfepreises des Flüchtlingsrats darauf hingewiesen, dass es keine Sicherheit in Afghanistan gebe und Begriffe wie „sichere Gebiete“ oder „interne Fluchtalternativen“ als Hilftskonstruktionen zurückgewiesen.
Hintergrund:
Deutschland hat im Oktober 2016 mit Sammelabschiebungen nach Afghanistan begonnen. Seither sind 155 Menschen dorthin abgeschoben worden, zuletzt am 06. Dezember. Das Land Niedersachsen beteiligt sich bisher nicht an diesen Abschiebungen. Allerdings sind nach Auskunft der Landesregierung auch aus Niedersachsen 2016 zwei strafrechtlich verurteilte Personen nach Afghanistan abgeschoben worden (sh. Landtagsdrucksache 17/7350, Seite 75). Der Flüchtlingsrat Niedersachen hält Abschiebungen nach Afghanistan ausweislich der aktuellen Sicherheits- und Menschenrechtslage für nicht vertretbar und sieht in ihnen einen Verstoß gegen flüchtlingsrechtliche Verpflichtungen. Er wendet sich generell gegen Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete.
Weitere Informationen:
Erkenntnisquellen zur Sicherheitslage und Gefährdungslage Afghanistan vom 09. Juni 2017
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