Sind Flüchtlinge in Deutschland noch willkommen? Diese Frage stellte der Flüchtlingsrat den Parteien, die sich derzeit im Bundestags- und Landtagswahlkampf um die Gunst der Wähler:innen bemühen, am 11.9.2017 in der Üstra-Remise in Hannover. Vor dem Hintergrund der seit 2015 deutlich veränderten öffentlichen Debatte um das Thema „Solidaritat mit Geflüchteten“ wollten wir von Politiker:innen der im Landtag vertretenen Parteien wissen, welche Flüchtlingspolitik zukünftig zu erwarten ist, wenn ihre Partei die Wahl gewinnt.
Auf der gut besuchten Veranstaltung stellten sich der Diskussion: Editha Lorberg, stv. Fraktionsvorsitzende der CDU; Stephan Manke, Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport für die SPD; Filiz Polat, MdL, stv. Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Migration und Flüchtlinge des Bündnis 90/Die Grünen, Jan-Christoph Oetjen, innenpolitischer Sprecher der FDP sowie Pia Zimmermann, Landesvorsitzende der Linkspartei. Darüber hinaus konnten wir Andrea Kothen, stellvertretende Geschäftsführerin von PRO ASYL, für eine Teilnahme an der Diskussion gewinnen.
Im Zentrum der Diskussion, die von den Vorstandsmitgliedern Claire Deery und Dündar Kelloglu geleitet wurde, stand zunächst die Außenpolitik der Europäischen Union und die Politik der Bundesregierung. Einig war sich das Podium in der Einschätzung der verheerenden Menschenrechtslage in Libyen. Jan-Christoph Oetjen widersprach für die FDP der Aussage, es gäbe in Libyen „Inseln der Rechtsstaatlichkeit“. Auch Editha Lorberg zeigte sich von den Zuständen in Libyen erschüttert, verwies jedoch auch auf begrenzte Aufnahmekapazitäten und eine veränderte öffentliche Stimmung in Deutschland. Staatssekretär Manke verteidigte die Position von Pistorius zum Thema „Anlaufstellen in Afrika“: Der Innenminister habe von „Libyen“ gar nicht gesprochen und Anlaufstellen unter der Kontrolle des UNHCR gefordert. Vor dem Hintergrund der vielen Toten im Mittelmeer sei es an der Zeit, darüber nachzudenken, wie eine Aufnahme von Verfolgten auch in Europa anders organisiert werden könnte. Andrea Kothen von PRO ASYL konterte mit dem Hinweis, dass es an Anlaufstellen auch des UNHCR in Afrika nicht mangele: Rund 270.000 von UNHCR als Flüchtlinge klassifizierte Menschen warteten allein in Ostafrika bislang vergeblich auf ein Resettlement-Angebot. Es gäbe keinen Mangel an Anlaufstellen, sondern eine mangelhaft ausgeprägte Bereitschaft der europäischen Staaten einschließlich Deutschlands, Schutz zu gewähren. Filiz Polat von den Grünen forderte daher legale Zugangswege für Flüchtlinge und die Einführung humanitärer Visa. Pia Zimmermann von der Linkspartei trat für uneingeschränkte Solidarität und offene Wege für Flüchtlinge ein. Unter Hinweis auf die finanziellen Nöte der Stadt Salzgitter sprach sie sich für eine gerechte Verteilung der Geflüchteten auf die Kommunen und für eine angemessene und zügige finanzielle Landesunterstützung der Kommunen aus, die viele Geflüchtete aufgenommen hätten.
In der zweiten Runde ging es um innenpolitische Themen: Stephan Manke versprach, die Frage eines neuen Landesaufnahmeprogramms für Familienangehörige von bei uns lebenden Geflüchteten nach der Wahl erneut zu prüfen. Hinter die vom Bundesparteitag der SPD gestellte Forderung nach einem Bleiberecht für alle, die bereits mehr als zwei Jahre in Deutschland leben, mochte er sich jedoch nicht stellen, und verwies auf die Härtefallkommission, über die entsprechende Fallkonstellationen gelöst werden könnten. Lorberg sicherte auf Nachfrage zu, dass die CDU im Falle einer Übernahme der Regierungsverantwortung die Härtefallkommission nicht antasten werde. Auch die Aufwertung der Kommission für Migration und Teilhabe erscheine ihr zielführend und sinnvoll.
Manke verteidigte die vom nds. Innenministerium kürzlich beschlossene Zuzugssperre unter Verweis auf den hohen Anteil syrischer Flüchtlinge in einigen wenigen Stadtteilen. Der Anteil syrischer Schüler:innen sei an einigen Schulen schon auf 50% und mehr gestiegen. Für diese Position wurde er von Oetjen, Polat und Zimmermann scharf kritisiert: Notwendig sei, so Polat, eine bessere finanzielle Ausstattung der von „Sekundärwanderungen“ anerkannter Geflüchteter betroffenen Kommunen. Eine negative Festlegung sei diskriminierend. Oetjen verwies auf ablehnende Stellungnahmen des Landkreistages und forderte Integrationspauschalen für Kommunen. Ein Ausweichen der Betroffenen in Nachbargemeinden helfe nicht weiter. Zimmermann forderte eine grundlegende Neuorientierung der Sozialpolitik: Probleme entstünden, weil das Geld hierfür fehle.
Lorberg verteidigte die Absicht des Bundesinnenministers, den Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz auch über den 16. März 2018 hinaus weiter auszusetzen. Aus Sicht der Betroffenen sei dies nur schwer erträglich. Es helfe jedoch auch nicht weiter, den Nachzug zu erlauben, wenn die einheimische Bevölkerung und die hiesigen Strukturen nicht bereit seien, weitere Familienmitglieder aufzunehmen. Dies kommentierte Kothen mit dem Hinweis, dass die Gewährung und Umsetzung elementarer Grundrechte in Deutschland sich aus der deutschen Verfassung und dem internationalen Völkerrecht ergebe und nicht mit Verweis auf die Stimmung der einheimischen Bevölkerung zur Disposition gestellt werden dürfe. Es sei offenkundig, dass die Bundesregierung große Teile der Geflüchteten aus dem Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention herausdefiniere und ihnen dann unter Hinweis auf ihren herabgesetzten, „subsidiären“ Schutz elementare Grundrechte verweigere. Auch Oetjen kritisierte den verweigerten Familiennachzug scharf. Bürgerkriegsflüchtlinge sollten nicht durch ein Asylverfahren gezwungen werden, sondern als Gruppe vorübergehenden Schutz erhalten und ihre Familien nachkommen lassen können. Darüber hinaus müsse ein Rechtskreiswechsel vom Status „vorübergehender Schutz“ auf den Status „Arbeitsmigration“ möglich sein.
Abschließend fragte Dündar Kelloglu alle Abgeordneten, ob der Flüchtlingsrat im Fall einer Regierungsbeteiligung ihrer Partei in der kommenden Wahlperiode mit einer weiteren Förderung rechnen könnte. Dies bejahten SPD, Grüne, FDP und Linke. Frau Lorberg mochte nichts versprechen, schloss eine Förderung aber auch nicht aus.
In der finalen Diskussion mit dem Publikum, die ein bisschen zu kurz kam, ging es vor allem um den Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer: Vertreter:innen verschiedener Initiativen verwiesen darauf, dass infolge der von der europäischen Union zu verantwortenden Abriegelung der Küste durch italienisches Militär und die mit EU-Geldern finanzierte libysche Küstenwache immer weniger Flüchtlinge es schafften, italienischen Boden zu erreichen. Europa trage eine Mitverantwortung dafür, wenn Flüchtlinge in libyschen Lagern vergewaltigt und misshandelt würden. Außerdem seien der europäische Lebensstil und die einseitigen Wirtschaftsbeziehungen mitverantwortlich dafür, dass Menschen zur Flucht gezwungen würden. Manke verteidigte seinen Vorschlag, eine koordinierte Aufnahme über vom UNHCR geleitete Anlaufzentren zu organisieren, als menschenwürdige Alternative zur jetzigen Situation, die davon geprägt sei, dass windige Schlepperorganisationen die Flüchtlinge auf seeuntüchtigen Nussschalen ein paar Seemeilen in internationale Gewässer brächten, wo sie dann von Seenotrettungsorganisationen aus dem Wasser gefischt würden, wenn sie nicht vorher ertränken. Kothen widersprach: Europa nehme Flüchtlinge über Resettlementprogramme nur in einer lächerlich kleinen, symbolischen Größenordnung auf. Das Relocationprogramm, das die Übernahme von Geflüchteten aus Italien und Griechenland in andere europäische Staaten vorsehe, sei nicht einmal zu 20% umgesetzt worden. Die Aufnahme von Kontingenten könne ein zusätzlicher Weg sein, aber niemals eine Alternative zum individuellen Asylrecht.
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