Innenminister Pistorius und Regionspräsident Jagau beschweren sich beim BAMF über Schutzgewährung
Flüchtlingsrat fordert Rückholung der Familie
Mit Empörung hat der Flüchtlingsrat auf die Abschiebung einer syrischen Familie in der Nacht von Donnerstag auf Freitag reagiert (siehe Bericht in der Hannoverschen Zeitung). Die Abschiebung erfolgte durch die Region Hannover in Absprache und mit Rückendeckung des Innenministeriums unter Inkaufnahme einer Familientrennung: Während die Familienmutter und drei der vier minderjährigen Kinder gegen ihren Willen nach Bulgarien verbracht wurden, sahen die Behörden von einer Abschiebung des Vaters ab, da der vierzehnjährige Sohn beim Eintreffen der Polizei davon gelaufen war.
Fassungslos macht der Fall aber auch deshalb, weil Regionspräsident Jagau und Innenminister Pistorius sich zuvor beim Präsidenten des Bundesamts über die Zuerkennung von Abschiebungshindernissen beschwert und mit Erfolg eine Aufhebung des positiven Bescheids durch das BAMF herbeigeführt hatten (siehe unten). Die Abschiebung war sogar rechtswidrig, da zunächst eine neue Abschiebungsanordnung hätte erlassen werden müssen. Der Flüchtlingsrat fordert Innenminister Pistorius auf, die abgeschobene Syrerin und ihre Kinder umgehend wieder nach Deutschland zurückzuholen und den leidgeprüften Flüchtlingen endlich einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.
Der Hintergrund des Vorfalls zeugt von einem rechtlichen und politischen Wirrwarr zu Lasten der betroffenen Familie, deren Leben zum Spielball der verschiedenen Akteure gemacht wurde.
Mit Bescheid vom 28.10.2015 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – Außenstelle Friedland – den Asylantrag der Familie zunächst als unzulässig abgelehnt, da ihr bereits subsidiärer Schutz in Bulgarien gewährt worden war. Mit Bescheid vom 21.07.2016 hob das BAMF – Außenstelle Bremen – den Bescheid vom 28.10.2015 jedoch auf und stellte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Bulgarien fest, da der Familie dort eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe.
Mit Schreiben vom 27.07.2016 wandte sich daraufhin der Präsident der Region Hannover, Hauke Jagau, an den Präsidenten des BAMF, Frank – Jürgen Weise, und beschwerte sich über die Schutzgewährung seitens der Außenstelle des BAMF in Bremen. Mit Schreiben vom 19.09.2016 wandte sich schließlich auch der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius an den Präsidenten des Bundesamtes und brachte sein Missfallen über die Entscheidung der BAMF Außenstelle Bremen zum Ausdruck. Daraufhin nahm das BAMF – Zentrale Nürnberg – am 27.10.2016 den schutzgewährenden Bescheid vom 21.07.2016 zurück: Dieser sei, so die fragwürdige Begründung, „rechtswidrig“ gewesen.
Aus Sicht des Flüchtlingrat Niedersachsen e.V. ist es nicht nachvollziehbar, warum das BAMF seinen Bescheid vom 28.10.2015 ein Dreivierteljahr später zunächst aufhebt und Schutz gewährt, um dann – nach massiver politischer Intervention – keine drei Monate später festzustellen, dass die schutzgewährende Entscheidung angeblich rechtswidrig gewesen sei.
Die Argumentation erscheint um so fragwürdiger, als das BAMF in seinem Bescheid vom 27.10.2016 selbst davon ausgeht, dass anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien „tatsächlich nur in seltenen Fällen […] Zugang zu staatlicher Unterstützung erhalten“ und „zu den ohnehin bestehenden […] Hürden […] auch eine nicht unerhebliche kritische Haltung gegen Flüchtlinge hinzu“ trete, die zu enormen allgemeinen Benachteiligungen führe, weshalb das Versorgungsniveau nur als „äußerst schlecht“ beurteilt werden könne. Menschenrechtsorganisationen berichten gar von schwerwiegenden Misshandlungen von Flüchtlingen in bulgarischen Einrichtungen (siehe Bericht der Tagesschau vom 16.4.2015: Foltert Bulgarien Flüchtlinge?); amnesty international berichtet in seinem Report 2016 über push-backs, verweigerte Integration und Hassverbrechen. Bürgerwehren im Land machen Jagd auf Flüchtlinge (siehe Auslandsjournal vom 8.6.2016). Etliche Verwaltungsgerichte lehnen daher die Abschiebung auch von anerkannten Flüchtlingen nach Bulgarien wegen „systemischer Mängel“ ab (siehe z.B. aktuell VG Oldenburg, Urteil vom 17.1.2017, 12 A 3971/16). Warum also hebt das BAMF den begünstigenden Bescheid dennoch drei Monate später wieder auf? Und was treibt den niedersächsischen Innenminister, der öffentlich immer wieder betont, dass Dublinverfahren nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, sich in dieser Form massiv für die Durchsetzung der Abschiebung einer syrischen Familie einzusetzen?
Das Verhalten der Behörden ist aber nicht nur aus politischer und menschlicher Sicht zu verurteilen, sondern verstößt auch gegen geltendes Recht. Mit Schreiben vom 25.01.2017 wies das Verwaltungsgericht Hannover sowohl die Ausländerbehörde als auch das BAMF darauf hin, dass durch die Rücknahme des Bescheides vom 21.07.2016 mit Bescheid vom 27.10.2016 die Abschiebungsanordnung des Bescheides vom 28.10.2015 nicht wieder aufgelebt sei und eine Abschiebung daher nicht unmittelbar bevorstehe, also nicht durchgeführt werden dürfe, da zunächst eine neue Abschiebungsanordnung erlassen werden muss. Dies hatte das BAMF in seinem Bescheid vom 27.10.2016 versäumt. Trotz dieses ausdrücklichen richterlichen Hinweises setzte sich die Ausländerbehörde der Region Hannover darüber hinweg und führte die Abschiebung durch. Die Abschiebung der Mutter und ihrer drei Kinder war offenkundig auch rechtswidrig.
Weitere Informationen:
Kai Weber, Tel. 0I78-1732569, kw@nds-fluerat.org
Muzaffer Öztürkyilmaz, Tel. 0511 – 98 24 60 38, moy@nds-fluerat.org
Der Flüchtlingsrat schreibt:
„Und was treibt den niedersächsischen Innenminister, der öffentlich immer wieder betont, dass Dublinverfahren nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, sich in dieser Form massiv für die Durchsetzung der Abschiebung einer syrischen Familie einzusetzen?“
Herr Pistorius war keineswegs wortbrüchig, da es sich hier nicht um ein Dublinverfahren, sondern um einen Fall handelt, bei dem den Antragstellern in einem anderen Mitgliedstaat der EU internationaler Schutz gewährt wurde. Diese Konstellation wird nicht von der Dublin-Verordnung erfasst, daher ergeht ein Drittstaatenbescheid nie im Dublin-, sondern stets im nationalen Verfahren. Deshalb ist die Durchführung der Abschiebung in den schutzgewährenden Mitgliedstaat Aufgabe der Länder und eben keine alleinige Aufgabe des BAMF im Rahmen der Überstellung aufgrund der Dublin-Verordnung.
Auch wenn sich Herr Pistorius in seinem Schreiben an das BAMF – wie aus dem Betreff ersichtlich – dessen selbst nicht so ganz bewusst war: Dem Flüchtlingsrat sollte dies bekannt sein, wenn er für glaubwürdige politische Lobbyarbeit in Asylfragen stehen möchte.
Die Kritik ist nur teilweise berechtigt. In der Tat macht es einen rechtlichen Unterschied, ob ein Dublin-Bescheid oder ein sog. Drittstaatenbescheid erstellt wird. Auch im Verfahren auf Feststellung von Abschiebungshindernissen für Personen, die in einem Drittstaat als Flüchtlinge anerkannt wurden, ist jedoch das BAMF Antragsgegner. Die am Ende getroffene Entscheidung ist, wie das Innenministerium betont, bindend für die Ausländerbehörde.
Strittig ist, ob es einen Entscheidungsspielraum für Landesbehörden gibt, wenn n a c h der rechtskräftigen Entscheidung des BAMF neue Abschiebungshindernisse auftreten. Das Land vertritt hier den Standpunkt, dass – jedenfalls dann, wenn eine Abschiebungsanordnung getroffen wurde – kein Spielraum für landespolitische Entscheidungen bestehen. Entsprechend werden etwa Härtefallanträge nicht zur Bearbeitung angenommen.