Wieviel „Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik“ wird bleiben?

Der Flüchtlingsrat fordert die Landesregierung auf, die selbstgesetzten Ansprüche an eine humanitäre Flüchtlingspolitik zu verteidigen und auch nach den schwerwiegenden und schmerzhaften Gesetzesänderungen im Rahmen des sog. „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes“ die Durchführung von überfallartigen Abschiebungen im Morgengrauen per Erlass zu unterbinden.

„Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden“, heißt es nun in §59 abs. 1 AufenthG. Jörg Mielke, Chef der Staatskanzlei, hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass diese gesetzliche Grundlage ab 1.11.2015 gilt uns insofern anzuwenden ist. In dem nachfolgenden HAZ-Interview befürwortet Mielke zwar einen „konsequenten Kurs“ als „Signal nach außen“, macht aber gleichzeitig deutlich, dass das Land von seiner politischen Haltung, wie sie im sog. Rückführungserlass festgehalten ist, nicht grundsätzlich abweichen will.

Die Landesregierung ist daher jetzt gehalten, den Rückführungserlass so an die neue Rechtslage anzupassen, dass seine politische Intention nicht verloren geht. Hierzu gehört nicht nur die Prüfung des Vorliegens anderweitiger Gründe für eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung, sondern auch der Vorrang einer freiwilligen Ausreise sowie die Ermöglichung eines Härtefallantrags vor der Einleitung von Abschiebungen. Auch das Verbot eines unangekündigten gewaltsamen Eindringens in Wohnungen und Unterkünfte der Flüchtlinge zur Nachtzeit sowie das Verbot der Trennung von Familien durch Abschiebungen bleibt durch die neue Rechtslage unberührt.

Niedersachsen hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Ausländerbehörden zu „Willkommensbehörden“ umzugestalten und Flüchtlingen human zu begegnen. Einen „wichtigen Schritt für mehr Menschlichkeit in der Niedersächsischen Ausländer- und Flüchtlingspolitik“ nannte Innenminister Boris Pistorius in seiner Presseerklärung vom 23.09.2014 den Rückführungserlass. Der Flüchtlingsrat fordert die Landesregierung auf, dieser Zielsetzung treu zu bleiben. Ein fairer Umgang mit den Flüchtlingen erfordert es auch weiterhin, dass die von Abschiebung Betroffenen jedenfalls nicht überrascht werden: Willkommensbehörden reden mit den Flüchtlingen und überfallen sie nicht. Zwar ist die Ankündigung des konkreten Abschiebungstermins gesetzlich ausgeschlossen, zulässig und erforderlich ist aber der ausdrückliche Hinweis der Ausländerbehörde an die Betroffenen darauf, dass eine Abschiebung unmittelbar bevorsteht und demnächst eingeleitet wird. Vorfälle wie in Gnarrenburg, wo am 5.10.2015  ein iranischer herzkranker Flüchtling ohne Ankündigung nachts überfallen und zum Flughafen gebracht wurde (siehe Presseerklärung vom 9.10.2015), dürfen sich nicht wiederholen.
__________________________________________________________

Nachfolgend dokumentieren wir das heutige HAZ-Interview mit Jörg Mielke:

„Abschiebungen auch Signal nach außen“
Jörg Mielke, Chef der Staatskanzlei, spricht im HAZ-Interview über neue Maßnahmen in der Flüchtlingspolitik

Die Chefs der Staatskanzleien haben sich jetzt mit dem Chef des Bundeskanzleramtes, Peter Altmeier, über die künftige Abschiebepraxis unterhalten. Was ist dabei herausgekommen?

Die Telefonschaltkonferenz ging auf Initiative von Peter Altmaier zurück. Es ging auch um ganz praktische Fragen, etwa ob bei Abschiebungen mit dem Flugzeug oder der Bahn immer Bundespolizisten dabei sein müssen. Oder ob man bei Kapazitätsengpässen in der zivilen Luftfahrt auch Passagiermaschinen der Bundeswehr einsetzen kann.

Wie sieht Niedersachsen das? Dürfen abgelehnte Asylbewerber auch mit Militärmaschinen abgeschoben werden?

Das ist eine völlig nachrangige Frage. Entscheidend ist, dass man konsequent dort zur Ausreise auffordert und auch abschiebt, wo tatsächlich kein Bleiberecht besteht und die Menschen nicht freiwillig ausreisen.

Das heißt, wenn es praktischer ist, eine Militärmaschine zu nehmen, hätte Niedersachsen nichts dagegen?

Das erscheint mir derzeit ganz und gar nicht realistisch, aber im Zweifel sind wir für pragmatische Lösungen.

Nun hat sich Niedersachsen bei der Abstimmung im Bundesrat über diese Fragen enthalten, weil vor allem die Grünen Kritik an der geplanten Abschiebepraxis haben. So hat der Bundesrat etwa beschlossen, künftig ohne vorherige Ankündigungen abzuschieben. Wird sich Niedersachsen daran halten?

Es gibt dazu zwei Haltungen, eine politische und eine rechtliche. Unsere politische Haltung haben wir in unserem eigenen Rückführungserlass festgehalten. Nun geht der Beschluss von Bundestag und Bundesrat weiter. Der wird am 1. November Rechtslage sein und den haben wir auch in Niedersachsen zu beachten.

Hat das Land mit seinen liberaleren Regelungen keinen Spielraum mehr?

So ist es. Ab 1. November sind die strengeren Regeln geltendes Recht. Wir haben da keinen Spielraum.

Also müssen alle abgelehnten Asylbewerber ab 1. November damit rechnen, ohne Ankündigung abgeschoben zu werden.

Ja, so ist es.

Kann eine rot-grüne Landesregierung, die sich einer humaneren Asylpolitik verschrieben hat, damit leben?

Die Einhaltung der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist für keine Landesregierung eine Diskussionssache.

Rechnen Sie mit vielen Abschiebungen in den kommenden Monaten?

Der Bund hat angekündigt, dass von den Altfällen des Bundesamtes für Migration  noch 150 000 Fälle bundesweit abgearbeitet werden sollen. Dann wird man auch in Niedersachsen mit mehreren tausend Abschiebungen realistischerweise rechnen müssen.

Wesentlich mehr als bisher…

Ja, bis einschließlich September 2015 wurden aus Niedersachsen rund 700 Personen abgeschoben. Wo Abschiebehindernisse bestehen oder Duldungen vorliegen, werden wir natürlich nicht abschieben.

Fürchten Sie nicht einen großen Schaden in der Koalition, die sich einer neuen Willkommenskultur verschrieben hat?

Wir haben nun einmal völlig andere Verhältnisse als man vor zwei Jahren auch nur erahnen konnte. Im Übrigen bringt ein konsequenter Kurs auch eine Entlastung in unseren Einrichtungen – und setzt ein Signal nach außen. An der Willkommenskultur, etwa für Menschen aus Syrien, ändert sich ja nichts.

Interview: Michael Berger

Bitte schreiben Sie an dieser Stelle nur allgemeine Kommentare.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...

Schreibe einen Kommentar

Jetzt spenden und unsere Arbeit unterstützen!