Der halbherzige Beschluss der Innenministerkonferenz aus November 2004, Abschiebungen nach Afghanistan nur nach einer sorgfältigen „Einzelfallprüfung“ und in sehr eingeschränktem Umfang zuzulassen, ist nirgendwo schriftlich dokumentiert. Es existiert in Niedersachsen nur ein Erlass vom 09.06.2005, der eine gestaffelte Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen vorsieht und gerade kein Abschiebungsstopp darstellt. Dennoch hat es seit 2005 aus Niedersachsen faktisch keine Abschiebungen nach Afghanistan gegeben (ausgenommen: Straftäter:innen). Die Betroffenen leben mit einer „Duldung“ in Deutschland
Das Land Niedersachsen hat 2005 das Landeskriminalamt angewiesen, keine Abschiebungen nach Afghanistan zu terminieren. Einzelfälle sollten dem Innenministerium vorgelegt werden. Dies führte zwar dazu, dass es faktisch keine Abschiebungen gibt. Allerdings wird den betroffenen Flüchtlingen eine mögliche Integration auf diese Weise auch weitgehend verwehrt.
Da es keine anders lautende schriftliche Weisung des Landes gibt, gilt eine Abschiebung als grundsätzlich möglich. Dies veranlasst viele Ausländerbehörden dazu, die betroffenen Flüchtlinge unter Druck zu setzen: Ihre Duldung wird nur kurzfristig verlängert, sie erhalten Grenzübertrittsbescheinigungen oder ein Arbeitsverbot aufgrund fehlender Mitwirkung bei der Passbeschaffung, die von den Flüchtlingen aus Angst vor einer möglichen Abschiebung verweigert wird (welche aber faktisch nicht stattfindet).
Der Flüchtlingsrat bat das Innenministerium um einen förmlichen Abschiebestopp oder eine Feststellung, dass momentan keine Abschiebungen nach Afghanistan stattfinden, damit Hunderten von in Niedersachsen geduldeten Afghanen eine Integration und somit eine Perspektive ermöglicht wird. Die Antwort des Innenministeriums hierauf ist unbefriedigend. Die Innenministerkonferenz habe, so heißt es, die seit November 2004 bestehende Beschlusslage bestätigt, eine „Einzelfallprüfung“ durchzuführen. Der Mehrwert eines Abschiebestopps sei nicht erkennbar, da es in den Jahren 2013 und 2014 ohnehin keine Abschiebungen nach Afghanistan gegeben habe. Das Innenministerium hält demnach an dem Beschluss aus November 2004 und der Einzelfallprüfung fest und verweist auf die Bleiberechtsregelung, nach der Afghanen bei gelungener Integration eine Chance auf einen Aufenthaltstitel hätten. Begünstigt hiervon wären jedoch nur diejenigen, die sich seit mehreren Jahren in Deutschland aufhalten und trotz fehlenden Anspruchs auf beispielsweise Sprachkurse eine Ausbildung oder Arbeit finden konnten. Afghanische Flüchtlinge, die die Mindestaufenthaltsdauer noch nicht erreicht haben oder die Bedingungen der Bleiberechtsregelung nicht erfüllen, ist dies nicht möglich.
Dass die Verweigerung eines Aufenthaltstitels trotz eines politisch begründeten Verzichts auf Abschiebung und damit die „Kettenduldung“ der Flüchtlinge integrationspolitischer Unsinn ist, zeigen die Zahlen der in Deutschland geduldeten Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Rund 11.400 und damit 10% aller Geduldeten sind Iraker:innen und Afghanen (Quelle: BT-Drs. 18/3987). Von Einzelfällen lässt sich hier nicht mehr sprechen, eine „Einzelfallprüfung“ ist angesichts dieser Größenordnung auch nicht sachgerecht.
Die beste Lösung wäre die behördliche Feststellung, dass eine Rückkehr von Flüchtlingen nach Afghanistan und in den Irak derzeit unzumutbar und daher aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Damit wäre den Ausländerbehörden die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG möglich.
Die Verhängung eines formalen Abschiebestopps würde eine Verfestigung des Aufenthalts zumindest perspektivisch ebnen und den Weg bereiten für eine mögliche Integration. Dass ein solcher Schritt nicht ausgeschlossen ist, zeigt das Bundesland Rheinland-Pfalz. Im Sommer 2014 beschloss die dortige Landesregierung ein Abschiebestopp nach Afghanistan.
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