30 Jahre ist der Flüchtlingsrat geworden – für manch einen ein Grund, sich verwundert die Augen zu reiben: Was, schon so alt? Wir danken allen Gratulantinnen und Gratulanten, die den Weg zu unserem Empfang am 27.09.2014 geschafft oder uns schriftlich gratuliert haben,aber auch den vielen Helferinnen und Helfern, ohne die der Ablauf nicht so reibungslos geklappt hätte, und geben nachfolgend ein paar kommentierte Impressionen wieder.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Lars Wätzold, der durch seinen saloppen, originellen, unangepassten Moderationsstil zu gefallen wusste. Das Mitglied der Göttinger Comedy Company moderierte während die Veranstaltung mit einer sehr gelungenen Mischung aus lustigen, auflockernden Bemerkungen und der nötigen Ernsthaftigkeit und Sensibilität, die mitunter gefordert war. Bemerkenswert war auch die Kompetenz, mit der Wätzold, der bereits in Göttingen mit schlagzeilenträchtigen Veranstaltungen zur Unterstützung von Flüchtlingen in Erscheinung trat („Benefizessen für Schünemannopfer“), die Gesprächsrunden leitete und die Teilnehmenden ansprach.
Die Eröffnungsrede hielt unsere Vorsitzende Gisela Penteker. Sie blickte zurück auf die flüchtlingspolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Niedersachsen und die 30-Jährige Geschichte des Flüchtlingsrates, um darauf aufbauend Perspektiven für gegenwärtige und zu erwartende Entwicklungen zu benennen. Penteker erinnerte an das flüchtlingsfeindliche Klima in den 1980er und 1990er Jahren, hob die Veränderungen und Verbesserungen der letzten Zeit hervor und mahnte zur Sensibilität im Umgang mit Schutzsuchenden. Deutlich kritisierte sie die Zustimmung des Bundesrats zu einem Gesetzentwurf, der Roma und anderen Minderheiten auf dem Westbalkan pauschal das Recht auf Asyl abspricht, und machte sich für ein neues Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge auch aus dem Irak stark, deren Angehörige bei uns in Niedersachsen leben.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius beschwor den mit dem Regierungswechsel Anfang 2013 eingeleiteten „Paradigmenwechsel“ in der Flüchtlingspolitik. Er zählte die Verbesserungen auf, die die Landesregierung eingeleitet oder umgesetzt hat (u.a. Verzicht auf Gutscheine, neue Härtefallkommission, menschlicher Umgang mit Flüchtlingen, Aufnahmepolitik für Flüchtlinge aus Syrien usw.), und hob hervor, an welchen Stellen er noch Handlungsbedarf sieht. Erfreulich war sein Versprechen, dass es noch in diesem Jahr einen Landeserlass geben wird, der die Erteilung eines Aufenthalts auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 AufnehG in Verbindung mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention nahe legen wird: Menschen, die in Niedersachsen zu Hause und verwurzelt sind, sollen auch in Niedersachsen bleiben dürfen.
Auf ein kritisches Echo stießen dagegen die Ausführungen des Innenministers zum Beschluss des Bundesrats, mit dem Bosnien und Herzegowina, Serbien sowie Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden: Wie anders als über das Asylrecht sollen die in extremer Armut lebenden und vielfachen Diskriminierungen ausgesetzten Roma aus diesen Ländern denn eine menschenwürdige Lebensperspektive erreichen? Auch seine Erklärungsversuche, warum Abschiebungen in vielen Fällen unverzichtbar und manchmal auch nachts durchzuführen wären, überzeugten nicht alle. Immerhin konnte man dem Innenminister nicht nachsagen, dass er unbequemen Themen aus dem Weg ging. Er betonte dies selbst und führte aus, dass er den Flüchtlingsrat als durchaus unbequemen Gesprächspartner kenne und mit seiner Kritik „gut leben“ kann.
Nach seiner Rede verließ der Innenminister unsere Veranstaltung und verpasste damit leider auch die vielen Ausführungen zu den praktischen Widersprüchen zwischen der propagierten Willkommenskultur und dem Alltag für Flüchtlinge.
Politiker:innen aller im Landtag vertretenen Parteien mit Ausnahme der CDU standen den mitunter leicht provokant formulierten Fragen des Moderators gegenüber. Ansgar Focke, der für die CDU-Fraktion eingeladen wurde, hatte kurzfristig abgesagt und auf unsere Anfragen nach einer möglichen Vertretung nicht reagiert. Für die niedersächsische CDU kam stattdessen Frau Petra Joumaah, die jedoch auf eine Teilnahme an der Gesprächsrunde nicht vorbereitet war und daher nicht einspringen wollte. Stattdessen unterhielten sich Filiz Polat von den Grünen, Jan Christoph Oetjen (FDP) und Christos Pantazis (SPD) über die aktuelle flüchtlingspolitische Lage im Land und stellten ihre Vorstellungen vor, was die Landespolitik machen kann, um das Leben der Geflüchteten besser zu gestalten. Der vierte in der Runde war Bernd Mesovic, der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl. Er betonte, dass Niedersachsen im Vergleich zu anderen Bundesländern – etwa Baden-Württemberg – bemerkenswerte und grundlegende Veränderungen in der Flüchtlingspolitik eingeleitet hat. Nach der Diskussionsrunde überreichte Filiz Polat unserem Geschäftsführer Kai Weber einen grünen Hörer, als Symbol und Signal dafür, dass die Grünen auch zukünftig für die Wünsche und Anliegen des Flüchtlingsrats ein offenes Ohr haben. „Mit Kai Weber habe ich in den vergangenen Monaten öfter telefoniert als mit meiner eigenen Mutter“, erklärte Polat unter allgemeinem Gelächter.
Anschließend sprachen Nurjana Arslanova, Ahmed Abdallah, Saeed Maissara, Aigün Hirsch sowie Nura und Amina Önder über ihre Erlebnisse als Flüchtlinge in Niedersachsen. Amina und Nura erzählten von der Abschiebung ihrer Mutter, davon, wie ihre Familie und ihre Familie dadurch zerstört wurde und was für schlimme Folgen eine Familientrennung mit sich bringt. Aigün Hirsch führte aus, was für Probleme (bspw. in Bezug auf Spracherwerb und Studium) Geflüchtete im Alltag haben. Nurjana Arslanova berichtete von ihren Erlebnissen in Gifhorn, wo sie lange Zeit völlig isoliert leben musste und keine Chance auf eine Ausbildungsstelle hatte, davon wie sie diesem Teufelskreis mit Unterstützung des Flüchtlingsrats entfliehen konnte und von ihrem heutigen unermüdlichen Einsatz für die Rechte von Geduldeten bei der Organisation „Jugendliche ohne Grenzen“. Saeed Maissara legte einen wesentlichen Fokus seiner Worte auf die Würde von Flüchtlingen, die durch diskriminierende Gesetzgebung allzu oft mit Füßen getreten wird und um deren Anerkennung er und viele weitere sudanesische Flüchtlinge auf dem Weißekreuzplatz kämpfen. Ahmed Abdallah berichtete von seiner drohenden Abschiebung im Rahmen der Dublin III – Verordnung und den Schwierigkweiten, als Asylsuchender ein Studium der Elektrotechnik erfolgreich zu betreiben.
Forderungen von Aigün Hirsch, Aktivistin aus Lüneburg
- Dezentrale Unterbringung für alle Flüchtlinge (Nachbarn übernehmen die Aufgaben der Sozialarbeiter:innen, bessere Integration und Möglichkeit die Sprache zu erlernen)
- Unterbringung bei Verwandten ermöglichen (Unterbringungskosten werden gespart, Arbeit der Sozialarbeiter:innen wird überflüssig)
- Familienzusammenführung/-nachzug minderjähriger Kinder zu ihren Eltern, sowie der Mutter zu ihren minderjährigen Kindern sofort ermöglichen. Unabhängig vom Status der in Deutschland Lebenden. Die dramatischen Verhältnisse (Entfremdung zwischen Mutter und Kindern, Traumatisierung der Kinder) bei der Wiedervereinigung nach langen Jahren vermeiden.
- Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen! Gesetzliche Krankenversicherung für alle! Die Diskriminierung bei Sozialämtern, die häufig ärztliche Entscheidungen (ohne entsprechende Qualifizierung) treffen müssen, verhindern.
- Einwanderungsregeln für Roma sofort! Zuerst Einwanderungsregeln für Roma schaffen, dann die Herkunftsländer auf Eignung als sichere Staaten prüfen! Und nicht umgekehrt!
- Unbefristete Arbeitserlaubnis für alle Flüchtlinge! Arbeitsverbot nach § 33 BeschVO abschaffen. Die langjährig mit einer Duldung lebenden Menschen haben die nötigen Sprachkenntnisse und Qualifikationen für Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.
Für musikalische Unterhaltung sorgte in den Pausen zwischen den Gesprächen der Pianist Elmar Braß
Als nächstes redeten Vertreter:innen befreundeter Organisationen und Verbände über ihre Arbeit mit und für Flüchtlinge(n).Ulrich Christ von der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit betonte die Notwendigkeit einer umfassenden Öffnung des Arbeitsmarktes für Flüchtlinge. Dadurch würde die Integration für Flüchtlinge insgesamt deutlich erleichtert, was auch der gesamten Gesellschaft auf vielfältige Weise zu gute käme. Dem konnte sich auch Sabine Meyer von der Handwerkskammer nur anschließen. Die Kollegin aus dem AZF II-Projekt berichtete darüber hinaus u.a.über die multikulturelle Ausrichtung des Handwerks und die Potenziale, die sich daraus für Flüchtlinge ergeben. Über die Möglichkeiten der Selbstorganisation von Flüchtlingen und die notwendige Hilfe zur Selbsthilfe referierte Asghar Eslami (kargah). Ebenfalls auf dem Podium vertreten waren Hedwig Mehring und Magret Pues von den Caritas-Diözesanverbänden Hildesheim und Osnabrück, die über vielfältige und eingespielte Formen der Kooperation mit dem Flüchtlingsrat sprachen. Die beiden Caritas-Mitarbeiter innen erörterten die enge Zusammenarbeit in verschiedenen gemeinsamen Projekten, die im letzten Jahr darin gipfelte, dass die Caritas (ebenso wie die Diakonie) Mitglied im Flüchtlingsrat wurde. Abdou Quedraogo vom niedersächsischen Integrationsrat betonte, dass die niedersächsischen Integrationsbeiräte die angekündigten Öffnung der Integrationsangebote für Flüchtlinge begrüßen und schon in der Vergangenheit in starktem Maße mit dem Flüchtlingsrat zusammen gearbeitet haben.
Spannend waren auch die Beiträge der Aktivist:innenrunde. Die vielen Menschen, welche sich seit unzähligen Jahren unermüdlich und ehrenamtlich für die Rechte von Schutzsuchenden einsetzen und gelebte Solidarität praktizieren, erhielten eine Bühne, auf der sie auch Unbequemes und Kritisches ausführen konnten. Virginia Stüben vom AK Asyl Cuxhaven, eine der Mitbegründerinnen des Flüchtlingsrats, übte Kritik an unserer fehlenden Positionierung des Flüchtlingsrats zum Gaza-Krieg. Neben ihr saß Nils Bauer, jüngster in der Runde (von Lars Wätzold liebevoll als Nachwuchsaktivist bezeichnet), dem es gemeinsam mit dem Osnabrücker Aktionsbündnis gegen Abschiebungen gelang, mehrere geplante Abschiebungen zu blockieren. George Hartwig, jahrelanger Aktivist und Kollege im Flüchtlingsrat, berichtete von der Atmosphäre und dem Umgang mit Flüchtlingen und Flüchtlingsinitiativen in den 90er Jahren, als der Besuch eines Innenministers beim Flüchtlingsrat unvorstellbar schien und Flüchtlinge als Störenfriede behandelt wurden. Susanne Ohse brachte den vielen Zuschauer:innen ihren Verein „Leben in der Fremde“ in Goslar näher und informierte über einige der zahlreichen Aktionen, an welchen sie direkt beteiligt war – wie bspw. die überaus erfolgreiche Initiative Gutscheinumtausch, die unter sozialdemokratischer Ägide – Innenminister war Gerhand Glogowski – ins Leben gerufen wurde und heute glücklicherweise nicht mehr nötig ist.
Eine andere Form jahrelangen Einsatzes, der sich ausgezahlt hat, ist die Unterstützung Gazales, die im vergangenen Jahr endlich zurück nach Hildesheim kommen konnte, woran auch die zwei ehemaligen Landtagsabgeordneten Jutta Rübke und Lore Auerbach einen wesentlichen Anteil hatten. Zu dem langen Kampf gegen die vielen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeiten, die Gazale über sich ergehen lassen musste, standen die beiden Rede und Antwort.
Ronald und Ingrid Voigt berichteten über die Schwierigkeiten, in den 90er Jahren bei Mediziner:innen und Behörden eine Sensibilität für die Situation traumatisierter Flüchtlinge zu wecken.
Die letzten Worte gehörten dann unserem Vorstandsmitglied Dündar Kelloglu, der sich noch einmal bei allen Beteiligten, Redner:innen und Gästen für den rundum gelungenen Tag bedankte und das Büfett eröffnete.
Abschließend gab es dann noch die Gelegenheit bei leckerem vegetarischem Essen ganz ungezwungen miteinander ins Gespräch zu kommen.
Erfreut hat uns auch der Besuch zahlreicher Aktivist:innen des Weißekreuzplatzes in Hannover, welche den Rahmen nutzten, ihre Forderungen nach einer Bleiberechtsregelung öffentlich zu machen. An besagtem Platz, den die sudanesischen Flüchtlinge und ihre Unterstützer:innen besetzt haben, kämpfen diese schon seit geraumer Zeit für ihre Rechte und um öffentliche Aufmerksamkeit zur Menschenrechtslage im Sudan.
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