Auf einer Anhörung des Flüchtlingsrats Niedersachsen zum Internationalen Tag des Flüchtlings haben namhafte Juristen am 20. Juni in Hannover eine konsequente menschenrechtliche Orientierung bei der Auslegung des Aufenthaltsgesetzes gefordert. Die nach wie vor hohe Zahl von über 94.000 Geduldeten in Deutschland, denen ein Aufenthaltsrecht teils über Jahre verwehrt werde, sei ein gesellschaftlicher Skandal. In etlichen Fällen könnten die Ausländerbehörden auch ohne eine förmliche Bleiberechtsregelung ein Aufenthaltsrecht erteilen, weil den Betroffenen aufgrund ihrer Verwurzelung in Deutschland ein Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zustehe.
Senatsrat Dr. Christian Maierhöfer, ehemaliger Richter am Verwaltungsgericht Oldenburg, stellte anhand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dar, dass der Integrationsbegriff, den weite Teile der deutschen Behörden- und Gerichtspraxis zugrunde legen, nicht dem Konzept der Menschenrechtskonvention entspricht: Während Art. 8 EMRK eine umfassende Würdigung der gesamten sozialen, kulturellen, sprachlichen, freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen eines Migranten in Deutschland verlangt, sieht die deutsche Praxis häufig allein die Merkmale „rechtswidriger Aufenthalt“ und „Sozialhilfebezug“ als entscheidend an. Wenn es gelinge, die konkrete Lebenssituation der Betroffenen in den Mittelpunkt der Entscheidung zu rücken, könne § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK ein Instrument sein, um die Härten und Lücken, die jede generelle Bleiberechtsregelung in Einzelfällen mit sich bringt, zu kompensieren.
Prof. Alexy, Vizepräsident des OVG Bremen, führte aus, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die gewachsenen persönlichen und gesellschaftlichen Bindungen eines Menschen einen aufenthaltsrechtlichen Schutz begründen können. Der Gerichtshof habe dies insbesondere mit Blick auf die Angehörigen der sog. 2. Ausländergeneration festgestellt. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht hätten wiederholt hervorgehoben, dass die deutschen Gerichte und Ausländerbehörden verpflichtet sind, diese Rechtsprechung zu berücksichtigen. Über das Bleiberecht eines hier aufgewachsenen Ausländers ist danach aufgrund einer umfassenden Einzelfallprüfung zu entscheiden. Dabei gibt es keine Ausschlusskriterien, wie etwa eine fehlenden Schul- oder Ausbildungsabschluss. Auch der Umstand, dass der Aufenthalt des Betreffenden in der Vergangenheit lediglich geduldet war, macht die Einzelfallprüfung nicht entbehrlich.
Prof. Groß von der Universität Osnabrück betonte, dass sich ein Bleiberecht nicht nur aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern auch aus dem Grundgesetz ergeben kann. Er forderte den deutschen Gesetzgeber auf, die Ausweisungsgründe einzuschränken und eine generelle Einzelfallprüfung einzuführen. Außerdem plädierte er für eine großzügigere Gewährung eines Aufenthaltsrechts für Flüchtlinge, die nicht abgeschoben werden können. Das Rechtsinstitut der Duldung müsse abgeschafft werden.
Das Gutachten von Dr. Maierhöfer mit dem Titel: „Bleiberecht für langjährig Geduldete nach Art. 8 EMRK – Wege zur menschenrechtskonformen Auslegung des Aufenthaltsgesetzes“ kann in der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Niedersachsen angefordert werden.
Die Ausführungen der namhaften Juristen verdeutlichen noch einmal die Dringlichkeit einer Umsetzung der niedersächsischen Koalitionsvereinbarung, die zur Umsetzung von Art. 8 EMRK festhält:
„Die rot-grüne Koalition wird das humanitäre Aufenthaltsrecht (§ 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz) großzügig im Sinne der Betroffenen anwenden. Dabei muss sichergestellt werden, dass Ausländerinnen und Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, die wegen ihrer Verwurzelung in Deutschland entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht abgeschoben werden können.“
Ein entsprechender Erlass, wie ihn etwa auch die Bundesländer Bremen und Nordrhein-Westfalen verabschiedet haben, lässt leider noch immer auf sich warten.
Kai Weber