Aus Anlass der laufenden Innenministerkonferenz berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung heute auf Seite 3 über Deutschsyrer:innen, die sich – zumeist vergeblich – um eine Aufnahme von Familienangehörigen in Deutschland bemühen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Wir dokumentieren nachfolgend diese Reportage.
„Du wirst gerettet – du nicht“
von Marina Kormbaki
Deutschsyrer lassen nichts unversucht, um Verwandte aus dem Bürgerkrieg zu sich zu holen. Die meisten scheitern. Wer Glück hat, steht oft vor neuen Problemen.
Die Wohnung ist gerade erst bezogen, Aram Ali und seine Freundin sind noch dabei, sich einzurichten, aber das Bücherregal macht schon einen recht kompletten Eindruck. Gesetzesbücher lehnen aneinander, was daran liegt, dass Aram Ali Jura studiert, achtes Semester. Da wissen Jurastudenten schon ganz gut Bescheid, wo dieses Gesetz nachzuschlagen ist und wo jener Paragraf; das lehrt das Studium. Das Leben wiederum hat den 24 Jahre alten Aram Ali schon gelehrt, dass die Bücher nicht auf jede Frage eine Antwort geben. Was ist rechtens und was richtig? Und warum ist das nicht immer dasselbe? Solche Fragen sind es, die Aram Ali jetzt in den Sinn kommen.
Aram Ali war zehn Jahre alt, als seine Eltern, politisch Aktive, mit ihm aus Syrien nach Deutschland flohen. Er weiß, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein. Angst, Not, Eile – in Deutschland angekommen, wollte Aram Ali „mit all dem“, wie er sagt, nie wieder zu tun haben. Dann brach vor drei Jahren der Krieg in Syrien aus, und „all das“ holte ihn ein. Der eine Onkel erzählte am Telefon, wie Männer mit Waffen nach seiner Frau, Alis Tante, suchten – einer alevitischen Richterin, deren Volkszugehörigkeit sie zur Verdächtigen macht; die fünfköpfige Familie ist untergetaucht im Libanon. Und der andere Onkel, Kinderarzt in Aleppo, hat neulich gesagt, dass er seine drei Kinder keine Minute aus dem Haus lässt, weil die Granaten schon wieder ein Kind aus der Nachbarschaft getötet haben.
Seit mehr als einem Jahr versucht Aram Ali, gemeinsam mit seiner Mutter und einigen Verwandten die beiden Familien zu sich nach Hannover zu holen. Bisher hat es nicht geklappt. Der eine Onkel hat sich und seine Familie als Flüchtlinge bei UNHCR im Libanon gemeldet – eine der Voraussetzungen zur Aufnahme ins erste der zwei bisher von Deutschland aufgesetzten Hilfsprogramme. Aber bei der Auswahl der 5000 Schutzbedürftigen wurde die Familie nicht berücksichtigt. Neun Millionen Syrer sind auf der Flucht vor dem Krieg.
76.000 Anträge kommen auf 5000 freie Plätze
Dann gäbe es noch die Möglichkeit, über das zweite, im Dezember aufgelegte Programm Syrer nach Deutschland zu holen. Dafür müssen hier lebende Verwandte gegenüber der Ausländerbehörde versichern, dass sie zusätzlich zu ihrem eigenen Bedarf alle Kosten der Flüchtlinge übernehmen. Will er einen Flüchtling unterbringen, sollte der Antragsteller im Monat an die 2000 Euro netto verdienen, um überhaupt eine Chance auf einen der 5000 Plätze zu haben. Für die Plätze sind bereits mehr als 76.000 Anträge eingegangen.
Darunter sind auch jene für Aram Alis zwei Onkel und ihre Familien. Der Student weiß um die schlechten Chancen. Er selbst kommt gerade so über die Runden, seine Mutter betreibt eine kleine Änderungsschneiderei. Und selbst mit dem Einkommen der Verwandten käme nicht genügend Geld zusammen, um alle zehn Familienmitglieder nach Deutschland zu holen. „Es würde vielleicht für zwei reichen, aber wir können doch nicht sagen: Du wirst gerettet, du nicht“, sagt Aram Ali. „Darf es sein, dass Geld über Leben entscheidet?“
Jetzt sitzen die Innenminister der Länder in Bonn zusammen. Sie wollen ein drittes Hilfsprogramm für Tausende Syrer beschließen. Aber ein Beschluss schafft noch lange keine Fakten, und bisher kommt die Aufnahme der Flüchtlinge sehr langsam voran. Aus dem ersten, vor eineinhalb Jahren beschlossenen Kontingent, kamen die letzten Flüchtlinge erst im Mai an. Aus dem zweiten Kontingent sind gerade einmal 400 Menschen eingereist. Derweil vertrauen sich immer mehr Syrer Menschenschmugglern an und suchen in Lastwagen und Booten Einlass in Europa. Die Not ist groß.
Das Glück ist selten. Yassin hat Glück. Er und seine Ehefrau haben alle Voraussetzungen erfüllt, um sieben Verwandte Yassins zu sich nach Dresden zu holen. Nun sind sie da, Groß und Klein, alle sind in der Wohnung des Paars untergebracht. „Das macht mich sehr glücklich“, sagt Yassin, und ein Aber klingt an in seiner Stimme. Aber? „Verstehen Sie mich nicht falsch, aber meine neue Rolle ist ziemlich belastend.“ Es liegt an dieser Rolle, dass Yassin nicht mit wahrem Namen in der Zeitung stehen möchte. Er fürchtet Nachteile für sich und seine Familie, wenn er offen spricht, dabei ist er auf Unterstützung dringend angewiesen. Yassin ist Akademiker, er hat einen anspruchsvollen Beruf, mit dem er nun die Großfamilie ernährt. Er muss sich aber auch um Sprachkurse für die Neuankömmlinge kümmern, um Kita-Plätze, Arbeitsstellen, und auf keinen Fall darf jemand ernsthaft erkranken, denn die Kosten für die Krankenversorgung trägt allein Yassin. Jedes Husten beschwört da die Angst vor dem finanziellen Ruin herauf. „Meine Familie ist in allem, was sie tut, von mir abhängig“, sagt Yassin. „Das ist – bei allem Glück, sie in Sicherheit zu wissen – das Belastende.“
Neu, fremd, abhängig – Dorin G. kennt diese Gefühlsmischung. Als sie vor beinah zwei Jahren zum Studium nach Deutschland kam, bürgte eine entfernte Verwandte mit 8000 Euro für Dorin. Aber zwei Monate später starb die Verwandte, Dorin wusste nicht, wie weiter. Syrien versank in Blut und Trümmern, da trat in Deutschland ein neues, für Dorin wichtiges Gesetz in Kraft: Das Bafög-Amt unterstützte sie fortan. Eine Perspektive tat sich auf.
„Dieser Krieg wird dauern, ich werde für lange Zeit nicht nach Syrien zurückkehren können“, sagt die 25-Jährige. Dorin rief vor ein paar Tagen bei ihrer Mutter an, die Mutter sagte, Dorin würde ihre Heimatstadt Aleppo nicht mehr wiedererkennen. Wenn sie könnte, würde Dorin ihre Familie dort raus- und zu sich nach Westfalen holen, sofort. „Aber ich kann das Geld beim besten Willen nicht aufbringen“, sagt sie. „Ich kann nur hoffen, dass man in Deutschland versteht, weshalb die Menschen hierherkommen wollen. Sie wollen keine Sozialhilfe, sie wollen ihr Leben retten.“
12.06.2014 / HAZ Seite 3 Ressort: BLIZ
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