Die Zahl der neuen Asylanträge war im Jahr 2005 hierzulande so niedrig wie seit 23 Jahren nicht mehr (S. 49). Deutschland liegt dabei im internationalen Trend: In den Industriestaaten ging die Zahl der Anträge auf Asyl insgesamt um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble feiert den Rückgang in Deutschland als einen Erfolg. Keinen Grund zum Feiern haben jene, die vor Kriegen, Bürgerkriegen, Verfolgung und Elend fliehen müssen. Weltweit sind es über 44 Millionen, schätzt das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Zwar ist die Zahl der von UNHCR erfassten Flüchtlinge auch global um etwa vier Prozent gesunken, es stieg jedoch gleichzeitig die Zahl der „Menschen in flüchtlingsähnlichen Situationen“. Darunter fallen Asylsuchende sowie Rückkehrer, Staatenlose und ein Teil der Binnenflüchtlinge.
Von den Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, kommt nur ein Bruchteil in den reichen Ländern an, und es werden immer weniger. Dies ist der Hauptgrund für den Rückgang der Asylbewerberzahlen. Heribert Prantl, Ressortleiter für Innenpolitik bei der süddeutschen Zeitung, weist darauf hin, dass die Europäische Union in den vergangenen Jahren fast alle legalen Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Territorium verschlossen hat (S. 40). Die Industrieländer schotten sich ab und perfektionieren ihre Grenzregimes. Viele Menschen lassen ihr Leben bei dem Versuch, diese Grenzen zu überwinden. Abschottung ist jedoch nicht nur inhuman, sondern auch für die Industrieländer keine dauerhafte Lösung. Denn die Migration wird weitergehen, solange ihre Ursachen fortbestehen. Prantl: „Die Flüchtlinge fliehen, weil sie nicht krepieren wollen“.
Flüchtlingsbewegungen sind nicht auf einzelne Kontinente begrenzt, es handelt sich um ein globales Phänomen. Darauf Einfluss nimmt die weltweite Tendenz, alle materiellen und immateriellen Ressourcen zu Waren zu machen, in Wert zu setzen und gleichzeitig jene, die in diesem Verwertungsprozess überflüssig werden, ihrem eigenen elenden Schicksal zu überlassen. Hans Georg Hofmeister beschreibt am Beispiel Kolumbiens, wie gezielte Vertreibungen zu einem Instrument der Enteignung von Grund und Boden indigener und afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen werden (S. 35). „In der Logik neoliberaler Restrukturierung werden (â?¦) Land und Ressourcen dem freien Markt zugeführt“. Verdichtung der internationalen Beziehungen, Inwertsetzung und Krise sind die gegenwärtigen Ausdrucksformen der Globalisierung. Durch die weltweiten Flüchtlingsströme wird den Industrieländern dieser Zusammenhang unmittelbar vor Augen geführt. Die Opfer einer internationalen Wirtschaftsordnung, in der es einige Gewinner und viele Verlierer gibt, klopfen an die Türen jener Länder, die immer noch am meisten von ihr profitieren.
In Deutschland versprach die inzwischen abgelöste rot-grüne Regierung, der kaum erwünschten jedoch faktisch erfolgenden Migration durch ein Zuwanderungsgesetz besser Rechnung tragen zu wollen. Das Versprechen wurde nicht gehalten. Aus dem sogenannten Zuwanderungsgesetz ist eher ein Zuwanderungsverhinderungsgesetz geworden, welches die Logik der Abschottung fortsetzt. Volker Maria Hügel vergleicht in seinem Artikel Anspruch und Wirklichkeit dieses Gesetzes (S. 11). Statt einer Aufenthaltsregelung für die seit Jahren und Jahrzehnten ohne gesicherten Status in Deutschland lebenden Menschen, den Geduldeten, hagelt es Widerrufsverfahren gegen bereits anerkannte Asylbewerber (S. 15 -18), läuft die Abschiebemaschine in einigen Bundesländern, insbesondere auch in Niedersachsen, auf Hochtouren. Die Abgeschobenen, die in Deutschland oft hervorragend integriert waren, werden in ein Elend gestoßen, dem sie vor Jahren zu entkommen suchten (S. 28 – 33, S. 43).
Mit der gegen Flüchtlinge gerichteten Politik und ihren Auswirkungen beschäftigen sich die Autoren des vorliegenden Heftes aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei wird deutlich: Die Forderung nach einer humanen und gerechten Flüchtlingspolitik und die Frage, was wird aus den Geduldeten, stehen nach einem Jahr Zuwanderungsgesetz in Deutschland immer noch auf der politischen Agenda.
Achim Beinsen