Zwangsassimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

IPPNW-Delegationsreise in die Türkei vom 8.-22. März 2008

Istanbul “ Van “ Hakari “ Dogubeyazit “ Tunceli “ Diyarbakir “ Viransehir “ Nuseybin “ Mardin “ Midyat “ Hasankeyf – Izmir
Dr. Gisela Penteker, Ernst-Ludwig Iskenius, Dr. Friederike Speitling, Jürgen Rathmann, Barbara Bernhof-Bentley, Jelena Steigerwald, Benito Katzer, Uta Freyer, Elisabeth Krösch und Mehmet Bayval

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Vorwort Dr. Gisela Penteker: Der Prophet Ibrahim erzählte einst folgende Geschichte: Auf dem Berg Nemrut am Vansee hauste ein grausamer Tyrann. Er ließ alle Menschen in den Krater des Berges werfen, in dem ein schreckliches Feuer loderte. Am Rand des Kraters stand eine große graue Echse und pustete ständig in das Feuer. Ein Wanderer fragte sie: „Was machst du da? Das Feuer brennt doch lichterloh, du brauchst es doch nicht noch mehr zu schüren?“ „Doch ich puste, denn ich habe mich entschieden, ich stehe auf der Seite des Tyrannen.“

Ein Stück weiter lief eine Smaragdeidechse ständig zwischen dem Kraterrand und einem kleinen Bach hin und her. Mit ihrer kleinen Zunge nahm sie in dem Bach ein paar Wassertropfen auf, lief zum Kraterrand und schüttete sie in das Feuer. „Was machst du da? Siehst du denn nicht, dass dein Tun vollkommen unnütz ist, das Feuer brennt viel zu stark. Du kannst es gar nicht löschen.“ Die kleine Smaragdeidechse erwiderte: „Ich tue, was ich kann!“

Diese Geschichte hat uns Emrullah Cin, der Bürgermeister von Viransehir, mit auf den Weg gegeben. Der Lehrer und DTP-Politiker hatte uns schon im letzten Jahr sehr beeindruckt mit seiner konsequenten Politik der kleinen Schritte zum Wohl der Bürger seiner Stadt und mit ihrer aktiven, basisdemokratischen Beteiligung. Obwohl er denselben bürokratischen Beschränkungen und Schikanen der Zentralregierung in Ankara unterworfen ist, wie seine BürgermeisterkollegInnen, lamentiert er nicht. Er nutzt die kleinen Spielräume, und seine Stadt entwickelt sich rasant. Er hat aufgehört, die vielen Gerichtsverfahren zu zählen, die gegen ihn eingeleitet wurden, weil er die kurdische Sprache auf Informations- und Notizzetteln für seine kurdischen Bürger neben der türkischen benutzt, weil er mit seiner bloßen Existenz „das Türkentum beleidigt“, eine nach dem viel diskutierten § 301 strafbare Handlung, weil er den benachteiligten Gymnasiasten seiner Stadt kostenlose Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfung auf eine Universität anbietet, was gegen einen der vielen anderen Paragrafen verstößt.

Heftig kritisiert er die Politik der EU. Bevor die Türkei zum Beitrittskandidaten erklärt wurde, waren er und seine BürgermeisterkollegInnen häufig Gäste in europäischen Städten und Parlamenten. Sie hätten dabei gesehen, dass auch in Europa nicht alles Gold ist, was glänzt. Seit der Aufnahme der Beitrittsgespräche sei die kurdische Frage in Europa ganz vergessen. Die Menschen in Europa scheinen der Meinung zu sein, dass sich das Problem erledigt habe. Das hält er für sehr gefährlich und wir spüren seine Sorge und auch seine Wut.

In Hakari empfingen uns die Gemeindevertreter am Eingang des Rathauses und zeigten uns voller Empörung die zerbrochenen Scheiben. Der Bürgermeister hatte versucht, aufgebrachte Demonstranten zu beruhigen. Die Polizei war brutal dazwischen gegangen, hatte den Eingangsbereich demoliert und mehrere Personen verletzt.

In Dogubeyazit erzählte uns die Bürgermeisterin, dass Gouverneur und Militärchef sie ignorierten, sie nicht zu offiziellen Anlässen einlüden, sie nicht grüßten, wenn sie trotzdem erscheine. ßberall hörten wir ähnliche Geschichten: Die BürgermeisterInnen der DTP werden von den Vertretern der Zentralregierung behindert, missachtet, schikaniert. Die AKP-Regierung versucht, sie so bei ihren Wählern zu diskreditieren. Auf der anderen Seite verteilt die AKP Wohltaten wie Lebensmittel und Schulmaterialien, um die Wähler auf ihre Seite zu ziehen.
Trotz reger Bautätigkeit in allen Städten, die wir besuchten, ist die Armut überall bedrückend. Gewalt prägt das Leben der Menschen und zerstört die Gesellschaft. Der Bürgermeister von Hakari bringt es auf den Punkt. Er sagt: „Kinder, die hier groß werden, sind lebende Zeitbomben“.

KAMER, die Frauenorganisation, die wir seit Jahren besuchen, beschäftigt sich mit Gewalt in der Familie. Inzwischen gibt es Büros in vielen Städten im Südosten. Sie beraten und schulen die Frauen, schützen sie in Zusammenarbeit mit Polizei, Imam und Behörden. Es gibt Frauenhäuser und eine breite gesellschaftliche Diskussion über „Ehrenmorde“ und Frauenrechte. Ein zentraler Teil ihrer Arbeit ist der Betrieb von Kindergärten, in denen sie auf gewaltfreie Erziehung setzen.

Auf der anderen Seite gibt es z.B. in Diyarbakir eine steigende Zahl von Straßenkindern. Zur Zeit etwa 20.000, denen Polizei und Verwaltung hilflos gegenüber stehen. Armut und schiere Not sind es auch, die Frauen in die Prostitution treiben. Das war vor einigen Jahren noch undenkbar.

Wir haben auch in diesem Jahr wieder Frauen und Männer getroffen, die sich unermüdlich und unbeirrbar für die Rechte ihrer Mitmenschen und für ihre politische ßberzeugung einsetzen mit einem hohen persönlichen Risiko. Es geschieht ganz viel an gesellschaftlicher Diskussion, an internationaler Zusammenarbeit, an Schritten in offene, moderne Lebensformen. Dagegen stehen archaische Clanstrukturen, unüberwindlich scheinende Tabus, unversöhnliche Kämpfer.
Die Schönheit des Landes, die Begegnung mit wunderbaren Menschen und mit den Wurzeln unserer Geschichte und Kultur, die Sehnsucht der Menschen nach Frieden sind uns Motivation und Ansporn, immer wieder den Kontakt zu suchen, in Deutschland von unseren Erfahrungen zu berichten, für eine ehrliche Politik Europas zu werben und uns für Frieden und Versöhnung einzusetzen und für die Rechte der Menschen, die bei uns Schutz suchen vor Verfolgung und Not.

Wenn der türkische Ministerpräsident in Köln die deutsche Assimilierungspolitik gegenüber seinen türkischen Landsleuten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geißelt, zeugt das von einem unglaublichen Realitätsverlust gegenüber der brutalen Assimilierung, der Kurden und andere Minderheiten in seinem eigenen Land seit Generationen ausgesetzt sind. Er muss auf beiden Augen blind sein. Das Motto unserer kurdischen Freunde zum diesjährigen Newrozfest war: „Edi Bese – Es reicht“.

Dr. Gisela Penteker, Vorstand

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