Eine zerrissene Familie – Neue Berichte zum Fall der Familie Siala/Salame

Gazale Salame aus Hildesheim wurde mit zwei Kindern in die Türkei abgeschoben. Ihr Mann und die anderen Töchter blieben zurück

Artikel aus: Berliner Zeitung vom 11.09.2012, Frankfurter Rundschau vom 12.09.2012

von Bernhard Honnigfort

HILDESHEIM. Was nützen Briefe? Was nützen gute Worte, Argumente und Appelle? In Niedersachsen nichts.
Rita Süssmuth, die frühere Bundestagspräsidentin, hat David McAllister geschrieben. Der „Hildesheimer Fall“, heißt es in dem zweiseitigen Papier an den niedersächsischen Ministerpräsidenten, „veranlasst mich heute, Ihnen meine Sorge und Betroffenheit über die fehlende Sensibilität und das offenkundige mangelnde Gespür der örtlichen Behörden und Landesdienststellen“ mitzuteilen. „Selbst für die als resolut und streng bekannte Flüchtlingspolitik des Landes Niedersachsen“, schreibt die CDU-Politikerin dem CDU-Politiker, erschienen ihr die Umstände des Falles „nicht nachvollziehbar und nicht im Geist unserer Verfassung“.

Siebeneinhalb Jahre Trennung

Auch Rudolf Seiters (ebenfalls CDU), früher Bundesinnenminister unter Helmut Kohl, heute Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, hat an McAllister geschrieben: „Meine tiefe Sorge gilt vor allem den Kindern der Familie, die offenbar unter einer Situation leiden müssen, bei der ich mich frage, ob der Gesetzgeber sie wirklich gewollt hat.“ Der Brief von Rudolf Seiters endet mit dem Satz: „Ich würde mich sehr freuen, wenn eine Zusammenführung dieser
Familie in Kürze zustande kommen könnte.“ Süssmuth hat im März 2012 geschrieben, Seiters Ende Mai. Passiert ist nichts.

Der „Hildesheimer Fall“ datiert vom 10. Februar 2005. Um halb neun stoppt ein Polizeiwagen in Dinklar bei Hildesheim vor der Wohnung von Ahmed Siala und Gazale Salame. Seit fast zwanzig Jahren lebt das Paar in Deutschland. Die beiden waren als Kinder mit ihren Eltern aus dem libanesischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen, lernten sich in Niedersachsen kennen, gründeten eine Familie, bekamen drei Kinder. In diesem Winter 2005
hat das Ausländeramt herausgefunden, dass die Eltern der Frau fast zwei Jahrzehnte zuvor vermutlich mit türkischen Pässen ins Land gekommen sind, also keine Staatenlosen sein können, sondern Türken sein müssen. Die Schlussfolgerung der Behörden: Gazale Salame soll zurück in die Türkei.

Am Morgen dieses 10. Februar ist Ahmed Siala gerade nicht zu Hause, er bringt die beiden älteren Töchter in die Schule. Aber seine Frau ist daheim, im dritten Monat schwanger und allein mit Schams, der einjährigen Tochter. Zehn Polizisten nehmen Frau und Töchterlein mit. Sie schieben Gazale Salame, die kein Wort Türkisch spricht, mit Kind in die Türkei ab. Vater Ahmed bleibt mit den beiden älteren Mädchen in Niedersachsen. Seine Schwiegereltern, die mit gefälschten Papieren eingereist sein sollen, bleiben seltsamerweise unbehelligt. Nur Tochter und Enkelin müssen fort nach Izmir.

Für Ernst Gottfried Mahrenholz, den ehemaligen Verfassungsrichter, ist die Abschiebung ein klarer Verfassungsverstoß: „Es geht hier um das Wohl der Familie. Und das Wohl der Familie kann nicht vom Staat bestimmt werden, sondern nur von der Familie selber.“ Doch als sich Ende Juli der niedersächsische Landtag noch einmal mit der Angelegenheit befasste, ging es aus wie immer. SPD, Grüne und Linke stellten einen Antrag auf Zusammenführung der Familie, CDU und FDP waren dagegen, die Angelegenheit wurde in den Innenausschuss verwiesen.

„So einen dramatischen Fall habe ich noch nicht miterlebt“, sagt Heiko Kauffmann. Der 63-Jährige kümmert sich seit mehr als 40 Jahren um Flüchtlinge. Er hat für das Kinderhilfswerk Terre des Hommes gearbeitet und die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl mitgegründet, war lange ihr Sprecher. Im Dezember 2011 hat auch er an McAllister geschrieben, fünf Seiten war der Brief lang. Vor einigen Wochen bekam er Antwort aus der Hannoveraner Staatskanzlei, von Staatssekretärin Christine Hawighorst. Im dem Schreiben heißt es: „Herr Siala hätte jederzeit die Möglichkeit gehabt, mit seinen bei ihm lebenden Töchtern zu seiner Frau in die Türkei zu reisen. Diesen Weg hat er – zum Leid seiner Frau – nicht gewählt.“

Kauffmann ist entsetzt. „Eine Familie wird zerrissen, die Frau sitzt seit über sieben Jahren mit zwei Kindern in der Türkei, leidet an Depressionen. Es ist beschämend“, sagt er. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) habe sich in dem Fall völlig verrannt, sagt Kauffmann: „Er setzt das Ausländerrecht über völkerrechtliche Bestimmungen zum Wohl von Kindern.“ Wie Ministerpräsident McAllister, selbst Vater von zwei Töchtern, sich wegducken und zu allem schweigen könne, begreife er nicht. Im Fall der Familie Nguyen sei doch auch eine Lösung gefunden worden, wirbt Kauffmann. Die vietnamesische Familie aus Hoya im Landkreis Nienburg war 2011 nach 19 Jahren in Deutschland nach Vietnam abgeschoben worden: Vater, Mutter, zwei Kinder, sechs und neun Jahre alt. Zu ihnen kam die Polizei mitten in der Nacht. Nur die 20 Jahre alte Tochter durfte bleiben. Es gab Proteste,
Schulklassen schrieben Briefe, Kirchenleute empörten sich, sogar die örtliche CDU muckte auf. Die Nguyens galten als vorbildliche Mitbürger, der Vater arbeitete seit 16 Jahren in einer Baumschule, die Leute waren beliebt im Ort. Ende Januar 2012 durften sie zurückkommen. Die niedersächsische Landesregierung hatte Einsehen gezeigt und eine „Aufnahmeerklärung aus humanitären Gründen“ abgegeben.

Was Recht ist

Wieso das im „Hildesheimer Fall“ nicht auch möglich ist, versteht Heiko Kauffmann nicht. „Es wäre doch ein Leichtes“, sagt er. Jetzt hat sich auch der Hildesheimer katholische Bischof Norbert Trelle zu Wort gemeldet. „Schlicht unwürdig“ nennt er Abschiebungen wie die von Gazale Salame und wirbt für
Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen. „Verantwortliche Politiker müssten bei allen Schwierigkeiten, die solche Fälle mit sich bringen, auch über ihren Schatten springen können.“

McAllister und Schünemann können es offensichtlich nicht. Die Bittbriefe ihrer Parteifreunde Süssmuth und Seiters an den Ministerpräsidenten seien Einzelmeinungen, heißt es aus der niedersächsischen Landesregierung.
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Originalartikel aus der Berliner Zeitung vom 11.09.2012: Eine zerrissene Familie

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