Boris Pistorius hat als erster niedersächsischer Innenminister den niedersächsischen Flüchtlingsrat besucht. Auf der Jahresversammlung des Flüchtlingsrates in Hannover-Linden stellte er den von der rot-grünen Landesregierung angestrebten „Paradigmenwechsel“ in der Flüchtlingspolitik vor.
Pistorius warb vor einem vollbesetzten Saal für eine echte „Willkommenskultur“. „Wenn man liest, dass Zuwanderer oft besser qualifiziert sind, wird man doch hellhörig“, so der Politiker. Angesichts der Tatsache, dass vor allem in Südeuropa viele Jugendliche ohne Perspektive dastünden, könne er sich vorstellen, dass es „eine Wiederholung der Zuwanderung geben wird, wie wir sie in den 1960er Jahren hatten“.
Pistorius sprach sich unter anderem erneut für die Aufnahme von 5.000 syrischen Flüchtlingen aus. Möglicherweise müsse die Zahl sogar noch nach oben korrigiert werden. Allerdings seien bezüglich der aktuellen Flüchtlingsproblematik in Syrien auch andere europäische Länder in dieser Frage gefordert. In Deutschland lebende Angehörige sollten ihre Verwandten holen dürfen, das sei naheliegend und notwendig. Beim IMK-Kamingespräch in der vergangenen Woche habe man aber noch keine befriedigende Lösung dafür gefunden, das Bundesinnenministerium habe diesbezüglich eigene Vorstellungen. Er erwarte eine Lösung der strittigen Fragen innerhalb der kommenden 4-8 Wochen. Die Innenministerkonferenz (IMK) habe die Integrationsminister darüber hinaus gebeten, ein schlüssiges Integrationskonzept für diese Flüchtlinge zu entwickeln.
Streichen solle man in der Diskussion um Zuwanderung den abwertenden Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“, sagte der SPD-Politiker. Schließlich führe oft die nackte Existenzangst dazu, dass Menschen ihre Heimat verließen. Für diejenigen, die schon lange in Deutschland lebten, aber nur eine Duldung hätten, müsse es vernünftige Bleiberechtsregelungen ohne Stichtag geben, sagte der Minister: „Das ist ein Gebot der Menschlichkeit, aber auch volkswirtschaftlicher Vernunft.“ Nicht ein Einreisedatum könne entscheidend sein, das sei unfair. Es müsse um eine Anzahl von Jahren gehen „nehmen wir mal an, 3 bis 4 Jahre, oder auch 5“. Gute Schulleistungen könnten nicht vorausgesetzt werden, es könne nur um regelmäßigen Schulbesuch gehen.
Die Zeit der Kettenduldungen müsse enden, es müsse ein Umdenken geschehen. „Das meiste von dem, was wir heute an Flüchtlings- und Ausreiseproblemen haben, ist Ergebnis der Politik der frühen 1990er Jahre“, sagte Pistorius, der am liebsten auch das vom Bundesverfassungsgericht bereits kritisierte Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen möchte – „aber dafür brauchen Sie einen Regierungswechsel in Berlin“, so der Innenminister.
In Niedersachsen habe man jedenfalls eine ganze Reihe von Forderungen der Flüchtlingsverbände aufgegriffen. So können jetzt die Kommunen selbst entscheiden, ob Asylsuchende Geld- oder Sachleistungen bekommen. Auch sei die Residenzpflicht für diese Menschen aufgehoben worden. Zudem werde der Härtefallkommission wesentlich mehr Entscheidungsspielraum eingeräumt. „Abschiebungshaft solle wann immer möglich vermieden werden“, so Pistorius. Ausschlusskriterien und andere Schranken für die Härtefallkommission würden gelockert werden. Ein Abschiebungshafterlass solle die Inhaftierung von Frauen und Kindern ausschließen, Abschiebungen würden beim ersten Versuch im Regelfall schriftlich angekündigt, Nachtabschiebungen sollten vermieden werden. „Wir wollen auch Familien nicht mehr auseinander reißen und Abschiebungen möglichst ganz vermeiden – aber dennoch wird es auch Fälle geben, in denen das Recht durchgesetzt werden muss“, sagte Pistorius.
Dieser Paradigmenwechsel der neuen Landesregierung müsse aber auch gegenüber den Ausländerbehörden in den Kommunen vermittelt werden. Die neue Landesregierung will die Menschen dabei mitnehmen. Integration solle gefördert werden, „indem man von vornherein eine Perspektive eröffnet“.
Allerdings sei die neue „Willkommenskultur“ kein Blankoscheck. „Jeder, der kommt, soll auch etwas einbringen.“ Leider gebe es aber auch Menschen „im Promillebereich“, die damit Probleme haben und etwa ihre Kinder nicht zur Schule schickten und sich auch sonst total verweigerten und auch Arbeitsmöglichkeiten ausschlagen. Sie brächten mit ihrem Verhalten die Akzeptanz für alle anderen Zuwanderer in Gefahr.
In dem mit knapp 100 Personen vollbesetzten Versammlungsraum stieß die Rede des Innenministers auf viel Zustimmung, teilweise auf Begeisterung. Aus dem Auditorium wurde aber auch darauf verwiesen, dass die Politik der 90er Jahre mit Arbeits- und Ausbildungsverboten und anderen Maßnahmen Ursache vieler Probleme sei. Der Innenminister stimmte dem zu. Eine Partizipations- und Teilhabeperspektive sei Voraussetzung für einen gelingenden Integrationsprozess.
siehe auch: Haz-Bericht vom 27. Mai 2013 sowie Interview mit Kai Weber (Asphalt-Magazin)
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